Helma Hörath

Laudatio zur Eröffnung der Ausstellung in der Galerie Altstadthof Teltow am 24. November 2007

Die Schöpfungsgeschichte oder das Rätsel des Lebens

Was ist Leben?
Warum existiert Leben?
Wie und warum gibt es das Universum?
Wann ist der Anfang der Zeit?
Was war zuerst, die Zeit oder das Universum?
Warum existiert unser Universum?
Warum gibt es nicht nichts?
Warum ist das Universum so, wie es ist? Warum bleibt es nicht so?
Warum aber hat es permanent gerade die Eigenschaften, die für das Leben, für das menschliche Leben und Überleben entscheidend sind?
Wie und warum entstand unsere Erde?
Die Geburt eines Sterns aus einem Nebel, wie lange dauert so etwas?
Zu Weihnachten sehen viele Menschen in den Himmel und suchen den Stern von Bethlehem. Ist er ein Mythos, hat es ihn wirklich gegeben?

Am Anfang eines Rätsels steht für uns Menschen die Frage. Ja, erst wenn wir uns fragen, warum eine Sache so abläuft wie sie gerade abläuft, in dem Moment wird eine Alltäglichkeit zum Rätsel. Haben wir die Lösung des Rätsels gefunden, ist es eine Tat-Sache und es ergibt sich eine neue Frage usw., usw., usw.

Das größte Rätsel aber verbirgt sich wohl für uns alle hinter der Frage: Woher kommt der Mensch? Seit Hunderten von Jahren suchen wir nach der Antwort, nach der allgemeingültigen Antwort auf diese Frage. Seit Hunderten von Jahren gibt es Erklärungsversuche, die von einem Teil der Menschheit als wahr und richtig angesehen, vom anderen Teil widerlegt werden. Und mit jeder neuen Erkenntnis geht die Suche nach dem Anfang des Lebens weiter. Seit Hunderten von Jahren werden Philosophen, Naturwissenschaftler und Künstler davon getrieben, ihre Sicht, ihre Meinung zu diesem Untersuchungsgegenstand aufs Papier, auf die Leinwand, auf die Bühne zu bringen, in Stein zu meißeln, auf Zelluloid oder auf Notenlinien zu bannen, um somit die Schatzkammer der Menschheit anzufüllen und neue Türen in bisher unbekannte Bereiche des Lebens zu öffnen.

Ich habe hier von Künstlern, Philosophen, Naturwissenschaftlern und Dichtern gesprochen. Ganz bewusst habe ich nur die männlichen Berufsbezeichnungen gewählt. Denn den Frauen, abgesehen von einzelnen, von ganz wenigen, wird es ja erst seit nicht viel mehr als 100 Jahren eingeräumt, sich mit eigenen Gedanken und selbständigen Leistungen in diese Diskussion einzumischen. Verglichen mit der uns bekannten Geschichte der Menschheit ist es also erst vor kurzem geschehen, dass Frauen wagten, den seit Jahrhunderten vorgegebenen gesellschaftlichen Kosmos zu durchbrechen und im damals herkömmlichen Leben eigentlich ein Chaos zu verursachen.

Kosmos, dieses griechische Wort, hat eine lange Geschichte. Es ist ursprünglich ein Synonym für Ordnung. Die früheste Erwähnung findet sich bei Homer im 8. Jh. v. Chr. Er benutzte es als Erklärung für das geordnet aufgestellte Heer. Dann wurde es im Sinne von Schmuck gebraucht, belegt bei Pythagoras im 6. Jh. v. Chr. Schließlich um die Zeitenwende kennzeichnete man damit die Harmonie. Später bezeichnete man, bezogen auf den Raum, in dem sich unsere Erdkugel bewegt, damit die Weltordnung und das Weltall. Also die Welt als geordnetes Ganzes. Kosmos als Gegensatz zum Chaos.

Wir wissen - und das wird als gegeben von allen angeführt und von keiner Wissenschaftssparte, von keiner Weltanschauung geleugnet -, dass am Anfang Chaos herrschte und erst mit einer bestimmten Ordnung eine lebensfähige Entwicklung möglich wurde, dass wir aber ohne dieses Chaos’ heute nicht hier an dieser Stelle stehen würden, dass unsere Erde nicht den Platz im Weltall hätte, den es jetzt zwischen Mond und Sonne am Himmel besetzt.

Ja, wie entstand das Weltall? Wer oder was gebar es? Seit etwa 1960 sind viele Menschen davon überzeugt, die Antwort zu kennen. Sie meinen:

Bis vor etwa 10 bis 20 Milliarden Jahren gab es nichts, nicht einmal den leeren Raum. Dann entstand spontan ein winziges Körnchen Raum, das mit einer so gewaltigen Energiemenge angefüllt war, dass es die 100 Milliarden Sterne der Milchstraße hervorbrachte, eine ähnliche Anzahl von Galaxien jenseits unserer eigenen, die Strahlung, die jeden Winkel des Weltalls erfüllt, und den Impuls, der noch immer dessen Ausdehnung vorantreibt. Dieses einfache und ansprechende Modell von der Entstehung des Weltalls ist sogar mit dem Buch Genesis in Übereinstimmung. Im Anfang war die Leere, dann bildeten sich plötzlich die Bestandteile, aus denen sich die gesamte Welt um uns herum entwickelte. Seit Beginn der 1960erjahre war diese Urknalltheorie das allgemein anerkannte Modell, in dessen Rahmen die meisten Studien über die Entstehung des Weltalls durchgeführt wurden. Als Leitprinzip war diese Theorie von unschätzbarem Wert. Und die Anerkennung, die ihr entgegengebracht wurde, hat der Kosmologie, die von jeher infolge eines chronischen Mangels an zuverlässigen Daten von heftigen Kontroversen durchzogen war, über 25 Jahre Frieden und Ruhe beschert.

Doch die Tage der glücklichen Ruhe neigen sich ihrem Ende zu. In den letzten Jahren begannen innerhalb des alten Rahmenmodells Widersprüche zwischen Erwartung und Wirklichkeit aufzutreten. So lassen sich die Fragen nach dem Ursprung der Materie und des physikalischen Universums, die sich heute stellen, ganz zu schweigen von der Problematik der Entstehung der Regeln, die das Verhalten der physikalischen Welt bestimmen, also der physikalischen Gesetze, kaum innerhalb dieses Rahmenmodells beantworten. Die kosmologische Frage ist erneut offen.

Und verstärkt beginnen nun die Menschen wieder ihren Blick auf den Anfang des Lebens zu richten, in den Schöpfungsgeschichten unserer Altvorderen zu blättern und daraus möglicherweise Richtungswerte für die Zukunft abzulesen. Denn mit all unserem Wissen des 20. Jahrhunderts - das 21. hat ja gerade erst begonnen - stehen wir oftmals ergriffen vor dem Wunder der Natur. Und wir scheinbar allwissenden Heutigen fragen uns, wie denn das sein kann.

Nehmen wir zum Beispiel eine Zelle. Zellen sind ja die quasiautonomen Einheiten des Lebens. Die einfachste Zelle, etwa eine Bakterienzelle oder eine Zelle, die beim Reiben von der Haut abgeschliffen wird, ist komplexer als jede Maschine, die der Mensch bislang gebaut hat. Wie alle Maschinen bestehen auch Zellen aus verschiedenen Teilen, chemischen Bestandteilen, die aus verschiedenen Sorten von Molekülen bestehen. Bakterien enthalten so viele unterschiedliche Molekülsorten, wie das Genom der betreffenden Art an Genen enthält, die sich zum Beispiel beim Coli- Darmbakterium auf etwa 3.000 belaufen.

Welche Maschinen in unserem Alltagsleben haben so viele Bauteile? Und welche von unseren Maschinen können sich spontan an Veränderungen ihrer Umwelt anpassen, wie dies Zellen tun, indem sie die Zahlenverhältnisse ihrer Komponenten verändern? Wer besitzt schon ein Auto, dem ein zusätzliches Rad wächst, wenn ein Reifen platt ist? Die einfachsten Zellen hingegen passen sich fortwährend in dieser Weise an sich wandelnde Umweltbedingungen an.

Zudem werden die komplexen Operationen nicht in dem aktiven Sinne zentral gesteuert, wie etwa die mechanischen Systeme eines Flugzeugs vom Cockpit aus gesteuert werden. In einer Zelle kommt die Gesamtheit der Gene, die physikalisch in der DNA verkörpert sind und die in ihrer Gesamtheit als Genom bezeichnet werden, einem solchen Steuerungszentrum noch am nächsten. Das Genom ist der Ort, an dem sowohl die Spezifik sämtlicher chemischer Bestandteile einer Zelle gespeichert wird, als auch die Struktur sozusagen eingebrannt ist, die immer wieder erneuert wird, wenn sich Zellen teilen, wobei entweder Zellen, die mit der Ausgangszelle identisch sind, oder Keimzellen entstehen, die bei gegenseitiger Befruchtung neue Organismen hervorbringen.

Ist das nicht schier unbegreiflich? Ja, wir kleinen Menschen stehen staunend, manchmal fassungslos vor solchen Abläufen in der Natur.

Und so könnten wir eine Seite und noch eine Seite und noch eine Seite im Lebensbuch unseres Universums aufschlagen und fänden immer wieder neue Wunder der Natur, meinetwegen auch neue Zeichen des Göttlichen in der Natur, denn es ist etwas, was wir beobachten, was wir als Fakt niederschreiben, was wir uns oftmals mit unserem menschlichen Wissen nicht erklären bzw. noch nicht erklären können. Und wir fragen uns immer wieder: Wer oder was gibt denn eigentlich den Anstoß, dass es in unserem Universum immer weiter rund läuft?

Universum ist ein relativ junges Wort. Es wurde im 18. Jh. aus dem Lateinischen entlehnt. Es ist das substantivierte Neutrum von uni-vertere, uni-versus = in eins gekehrt, in eine Einheit zusammengefasst. Universum bezeichnet also, genau genommen, das Ganze als Inbegriff aller seiner Teile.

Zu diesem Ganzen gehören auch wir, die Menschen, und sind aber nur ein Teil, ein wichtiger, aber eben nur ein Teil dieser ganzen Welt. Genau das zeigen die Werke der zehn Frauen, die sich in der Gruppe mit dem Namen die blutorangen. zusammengeschlossen haben, sehr deutlich.

Die blutorangen sind nicht angetreten, den Lauf des Universums neu zu interpretieren. Sondern sie zeigen ihre Drauf-Sicht auf des Lebens Anfang von der Plattform des 21. Jahrhunderts aus. Sie nutzen dazu die künstlerischen Mittel, mit denen sie seit Jahren ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Beobachtungen, ihre Entscheidungen für den einen oder anderen Lebensweg, für sich selbst und für andere dokumentieren.

Da wird die Entstehung der Erde nachempfunden. Da wird mit dem Tanz der Kraniche ein Moment von schier unbändiger Lebensfreude ins Bild gerückt. Da wird mit dem Auge des Osiris daran erinnert, dass im Pharaonenreich die erste der Menschheit heute bekannte Schöpfungsgeschichte niedergeschrieben wurde. Da wagten sich die Künstlerinnen daran, Töne und Geräusche wie den Urknall zu malen. Neben Steinen und der Lava, dem Herzblut der Erde, spielen immer wieder Bäume bzw. der Baum der Erkenntnis, mit seinen Zauberkräften, den Elixieren des Lebens, eine Rolle.

Und welch ein Jungbrunnen die Beschäftigung mit der Schöpfungsgeschichte, mit den Schöpfungsmythen der Völker ist, springt aus Bildern mit einer Malweise, die ich von der einen oder anderen „blutorange" nicht für möglich gehalten hätte. Welch ein Schöpfungsakt hat sich dort abgespielt!

licht und Luft, Erde und Wasser, Feuer und Farben, belebte und unbelebte Natur - all das spiegelt sich in den Werken, die hier bis zum 15. Dezember 2007 zu sehen sein werden.

Viele Fragen, die mit der Schöpfungsgeschichte zusammenhängen, haben wir Künstlerinnen hier nicht gestellt. Ganz sicher vermissen Sie die eine oder andere, die gerade Ihnen als so wichtig erscheint. Wenn Sie es möchten, dann schreiben Sie sie uns doch bitte per Brief oder per e-mail und vielleicht oder ganz sicher ergibt sich daraus ein weiteres Projekt für uns blutorangen.

Wir sind bereit, uns erneut in ein Chaos zu wagen und dieses gemeinsam zu rahmen. Denn das ist doch der tiefe Sinn der Schöpfung: in ein vorgefundenes Chaos eine Ordnung zu bringen.

Und noch eins lehrt uns das Alte Testament, nämlich, an bestimmten Abschnitten eines Schaffensprozesses innezuhalten, sich das Ergebnis zu betrachten und zufrieden mit dem Erreichten zu sein, um am nächsten Tag mit dieser Sicherheit und mit allen Sinnen, mit allen geistigen und körperlichen Kräften weiter zu machen.

Darum bleibt mir jetzt nur noch, Sie alle einzuladen, mit uns gemeinsam einen Schritt zurückzutreten, um das Geschaffte zu betrachten und um Neues zu gebären.

  

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