Helma Hörath
Sie trafen sich kurz vor Sonnenaufgang, die 100 x 100 Krieger.
Als die ersten Strahlen durch die Äste sprangen, umrundeten sie den Weltenbaum, fassten sich bei den Händen und unter Anstrengung aller ihrer Kräfte hoben sie den Stamm aus der Erde. In die tiefe Grube, die die Wurzeln hinterließen, warfen sie alle ihre Waffen. Dann setzten sie gemeinsam den Baum an seinen Platz zurück. Fortan herrschte Frieden zwischen den Menschen.
Das ist ein uralter Traum der nordamerikanischen Indianer. Aber haben wir ihn nicht alle gerade geträumt? Diesen Traum vom Frieden!
Es ist ein uralter Traum der Menschheit, der ewige Frieden. Aber wir brauchen den Frieden nicht nur im Traum, sondern in der Wirklichkeit. Wir brauchen ihn heute. Wir brauchen ihn morgen.
Dieses indianische Mythos zeigt uns neben dem wunderbaren Traum noch viel mehr. Nämlich: Es gibt einen Weg des Friedens. Aber der Friede kommt nicht von allein. Die Menschen müssen es sich vornehmen, diesen Weg des Friedens zu beschreiten. Und sie müssen es gemeinsam tun. Nur dann kann dieses Unterfangen gelingen, nur dann werden sie die notwendigen Kräfte dazu aufbringen, friedlich an jedem Tag mit einander zu leben.
Dieser erste große Schritt beginnt mit den Fragen:
Was bedeutet Krieg für uns Menschen, für unsere Welt, für unseren Erdenplaneten, für den Lebensraum, den wir uns teilen mit Pflanzen und Tieren? Ist Frieden nur das Schweigen von Waffen? Was bedeutet Frieden für unser Leben?
Die Frauen der Künstlerinnengruppe blutorangen haben versucht, ihre ganz persönlichen Antworten auf diese so wichtigen Fragen zu geben, ihre Richtung des Weges zu diesem von uns allen ersehnten Frieden aufzuzeigen.
Sofort ins Auge springt bei den Werken der diesjährigen Ausstellung die Darstellung von Persönlichkeiten, die sich mit jeder Faser ihres Herzens für den Frieden zwischen den Völkern einsetzen, die uns mit ihrem Leben und ihrem Mut Vorbild sind, uns immer wieder mit ihrem Beispiel bedeuten, nicht aufzugeben.
Da sind die aufreibenden Kleinigkeiten im Alltag, die uns Schmerzen bereiten, bis zur Weißglut aufreizen können und die doch vielleicht durch ein einziges Wort und eine Geste der Verständigung zu einem Nichts zusammenfallen können.
Da sind aber auch die furchtbaren, immer wieder quälenden persönlichen Erinnerungen an Not, Schrecken und Tod, verursacht durch Krieg, durch den Krieg, dessen Spuren wir nicht nur an manchen Häuserwänden noch sichtbar finden, sondern die noch viele von uns in ihren Köpfen und Herzen tragen, die immer weiter zurücktreten und doch wohl niemals vergessen werden können.
Da sind die greisenhaften Augen der Kinder, die uns nicht mehr loslassen, die uns fragen, warum sie nicht mehr lachen können, warum sie nicht singen, nicht springen können, warum sie nicht lernen dürfen, warum sie nicht wissen, was mit ihrer Schwester, was mit ihrem Bruder passiert ist, wo Mutter oder Vater sind.
Andere Bilder fordern zur aktiven Tat auf. Oder sie zeigen, welche Lebensmöglichkeiten der Frieden bietet. Nämlich: zu tanzen, Musik zu genießen, sich bei unterschiedlichsten alltäglichen Abenteuern in der Natur und im gesellschaftlichen Leben zu erproben, aus der Stille Kraft zu schöpfen, eine ganz persönliche Rolle zur konstruktiven Lösung eines Konflikts zu erkennen, neue friedliche Wege zu gehen…
Das verbindende Band zwischen den Werken, die wir hier im Raum sehen, zwischen den einzelnen Künstlerinnen und ihren persönlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema Krieg und Frieden, zwischen ihren künstlerischen Umsetzungen, zwischen all dem und uns, die wir die Werke beim Betrachten mit unseren Lebenserfahrungen interpretieren, sind die Farben.
Farben in unserem Leben spielen eine große Rolle, nicht nur beim Malen, sondern auch in der Physik, in der Biologie, in der Philosophie, in der Natur, in der Literatur, in der Kleidung, in der liebe, in der Trauer, bei der Geburt, beim Tod, im Alltag, an einem Festtag, bei Kriegswaffen, genauso wie bei Friedenszeichen.
Viele gelehrte Menschen haben darüber nachgedacht, in allen Zeiten, sie verfassten Schriften, Aufsätze, Romane, Theaterstücke. Aber nichts ist wohl so eindrucksvoll wie das folgende Gedicht einer 13-jährigen israelischen Pfadfinderin aus Beersheba. Sie schrieb im Jahre 2004:
Ich hatte eine Schachtel mit bunter Kreide,
glänzend, schön und neu.
Ich hatte eine Schachtel mit bunter Kreide,
auch warme und kalte Farben waren dabei.
Ich hatte kein Rot für die Wunden,
kein Schwarz für weinende Kinder.
Ich hatte kein Weiß für die Toten,
kein Gelb für den heißen Sand.
Ich hatte Orange für die Lebensfreude,
Grün für Knospen und Ströme.
Ich hatte Blau für den leuchtenden Himmel
und Rosa für friedliche Träume.
Ich setzte mich hin und malte.
Frieden.