Helma Hörath
Es ist ganz sicher etwas ungewöhnlich, dass ein atheistisch erzogener Mensch wie ich mit einem auch noch gegenwärtig atheistischen Lebensmittelpunkt einige Worte zum Thema “Engel” sagen soll und auch sagen will, ohne dass dabei eine Antithese angestrebt wird.
Von kleinauf wurde uns Kindern durch meinen Vater und meine Mutter das Staunen vor dem Wunder der Natur vermittelt und die stille Ergriffenheit, im Kreis der Familie am frühen Sonntagvormittag inmitten der Kiefern von Dreilinden im Moos zu sitzen und zu lauschen, die Gedanken wandern zu lassen, tief durchzuatmen und den Kleiber bei seinem Kopfüber-Kopfunter-Baumlauf mit den Augen zu begleiten. Auch wenn wir als Kinder diese Spaziergänge irgendwann mehr als schrecklich empfanden, habe ich bis heute ganz lebhafte Erinnerungen an diese Familiensonntage im Wald und an das Gefühl, dass da mehr zwischen Himmel und Erde sein muss, als das, was wir uns mit unserem Hirn erklären können.
Der christliche Gott mit seinen Himmelsboten, den Engeln, spielte in meinem familiären Kinder-Alltag keine Rolle. Aber zu Weihnachten hing in unserem Tannenbaum, in dem Kranz der Zweige, die sich um die Spitze winden, neben dem weißsilbrigen Wintervögelein auch ein kleiner Holzengel. Ganz unscheinbar war er, unlackiert. Wir alle wussten, dass er dort oben war. Ein Fremder aber bemerkte ihn erst, wenn er dicht am Baum stand.
Mein Vater nämlich glaubte tief und fest an einen Schutzengel für sich und für seine Familie. Und damit befand er sich in guter Gesellschaft mit 21 Prozent der Deutschen, die bei einer Umfrage vor einigen Jahren angaben, davon überzeugt zu sein, dass ein Engel sie immer begleiten und beschützen würde. Und das im 21. Jahrhundert! Um wie viel höher muss der Prozentsatz bei unseren Ahnen gewesen sein, vor 100, 200 und noch mehr Jahrhunderten zurück!
Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass in der deutschen Sprache fast alle Wörter, die sich auf den Engel beziehen - lassen wir mal Luzifer als gestürzten Engel unbeachtet -, dass sich also mit diesem Wortstamm fast ausschließlich positive Gefühle einstellen wie beispielsweise bei:
engelgleich, engelrein, engelschön, Engelsgesicht, Engelsgeduld, Engelshaar, engelsüß, Engelsstimme… Und wenn man so eindringlich wie nur möglich mit einem anderen Menschen redet, dann spricht man mit Engelszungen.
Ich war froh, als mir die Geschichte mit dem Weihnachtsengel meines Vaters einfiel - vergessen war sie nie, sie hatte aber in meiner Erinnerung über lange Zeit keine Bedeutung, erst als ich mich unmittelbar in der Ausstellungsvorbereitung befand, rückte sie wieder in den Vordergrund.
Denn mit dem familiären Schutzengel-Glauben fand ich meine Legitimation, zu diesem Thema zu arbeiten, in dieser Ausstellung einige meiner Werke zum Thema zu präsentieren und Überlegungen mit der Frage “Engel, wo bist du?” fliegen zu lassen, um mit den Engel-Adaptionen der “blutorangen”-Künstlerinnen und Ihnen, liebe Anwesende, ein gedankliches Zwiegespräch anzufangen.
Dieses Augengespräch mit den Kunstwerken beginnt mit vielen Fragen:
Was sind Engel? Wo leben sie? Wo sie herkommen, das wissen wir oder glauben es zu wissen. Was ihr Auftrag ist, das scheint ja auch ziemlich unstrittig zu sein, denn sie sollen der Mittler zwischen der Gottheit und den Menschen sein. Wenn das so stimmt, dann bedeutet es, dass wir hier unten nicht immer alles, was von oben kommt, sofort erkennen und verstehen können und demzufolge jemanden brauchen, der uns auf die Sprünge hilft.
Wie sehen sie aus, die Wächter des himmlischen Heeres, die Boten Gottes, die Helfer des Menschen? Was macht mein Schutzengel, wenn ich gerade nichts mache? Nimmt er dann ein himmlisches Entspannungsbad, wartet auf seinen Einsatz, um dann sofort zu mir zu spritzen? Zieht er sich diskret zurück, wenn ich es als peinlich empfinden würde, dass da noch ein Wesen zuschauen könnte?
Warum ruft man - zumindest in Gedanken - den Engel an, wenn es einem schlecht geht, wenn die Not am größten ist? Warum ruft man ihn nicht zum Feiern?
Warum lenkt der Engel manchmal die Augen auf die Ameise vor dem Fuß und ich entscheide mich, nicht draufzutreten? Warum lässt er mich manchmal in jeden, aber auch in jeden Fettnapf treten? Was sind die Zeichen, die ein Engel uns Menschen hinterlässt?
Da ich nicht sehr bewandert in der Religionsgeschichte bin, musste ich erst einmal lesen, lesen und lesen.
Zuerst wandte ich mich an Google und erfuhr, dass es in diesem Informationssektor des Internets unter dem Stichwort “Engel” -zugegeben unter dem sehr allgemeinen Stichwort Engel - 8.990.000 Seiten nur in deutscher Sprache gibt. Neben diesen Seiten-Ankündigungen läuft rechts eine Rubrik mit Hervorhebungen über Engelrituale in der Esoterik; über Schönes für Heim und Garten mit Engelfiguren und Engelskulpturen aus dem Versandhandel; über energie- und Trost spendende Bilder von lichtwesen und Engeln; über spirituelle Lebensberatung eines Heilzentrums, das mir verspricht, meinen Engel sprechen zu lassen; da gibt es die Angebote von Engeldüften, Engelkerzen, Engelseifen, Engelvasen, Engeltassen usw., usw., usw...
Diese Aufzählung ließe sich weiter fortsetzen, ich glaube fast unendlich fortsetzen. Aus dieser Sicht könnte man wirklich deuten, dass die Engel überall sind, neben uns, vor uns, über uns, hinter uns...
Also griff ich erst einmal zum Brockhaus-Lexikon, schlug bei Engel, bei Paul Klee, Marc Chagall und Rainer Maria Rilke nach, um bei einigen Künstlern des 20. Jahrhunderts zu bleiben und nicht bis zum alten Babylon zurückzugehen, denn dort schon sind Vorstellungen von Engeln belegbar. Es waren also nicht christliche Geburtshelfer, sondern der Glaube an Engelwesen sind in den Ein-Gott-Religionen schon vor dem Christentum vorhanden und wanderten durch die Jahrtausende des Lebens mit den Menschen und ihrem Bedürfnis nach der Suche eines Sinns, wenn die rationale Wahrnehmung nichts anbieten kann.
Bei der Internetrecherche stieß ich immer wieder auf einen Namen, der sicherlich auch für viele von Ihnen ein Begriff ist. Es ist der des Benediktinermönchs Anselm Grün. Er zitiert an einer Stelle seiner Schriften den Heiligen Augustinus, der nämlich meinte, dass die Bezeichnung “Engel” nicht für ein Wesen, sondern für eine Aufgabe stehen würde. Von Anselm Grün erfuhr ich, dass bis zu 50 Engel an unserer Seite sein sollen, Engel mit unterschiedlichen Aufgaben. Dabei setzt er in einer Aufzählung von 24 Engeln den Schutzengel an erster Stelle, gefolgt von dem Engel, der das Schreien des Kindes hört, und dem, der den Himmel öffnet, und dem, der das Opfer verhindert. In einer anderen Übersicht stellt der Benediktiner den Engel des Friedens auf den ersten Platz, gefolgt von dem Engel der Selbstbestimmung.
Bei Anselm Grün las ich: “Jeder Mensch braucht für sein Leben die Kraft der eigenen Seele. Die Seele, das ist die Lebenskraft und die Lebendigkeit des Menschen. Sie hält Räume des Schutzes bereit. Engel sind es, die uns mit diesen besonderen Räumen der Seele in Berührung bringen. Sie inspirieren den Alltag. Sie beflügeln uns. Sie bieten die Möglichkeit des Versunkenseins, des Sich-Fallen-Lassens, aber auch des Schwebens, des Aufsteigens durch die Phantasie und die Leichtigkeit des Spiels.”
Nun bitte ich Sie alle, von Ihrem Platz aus, an dem Sie gerade stehen, Ihre Augen - nur Ihre Augen - einmal still durch den Ausstellungsraum wandern zu lassen. Dabei sollte Ihr Blick für ein, zwei Sekunden auf jedem Kunstwerk ruhen, das Sie von Ihrem Standort aus sehen können. Natürlich müssen Sie sich dabei drehen, aber in welcher Richtung Sie beginnen, das ist allein Ihre Entscheidung. Und jetzt werden wir gemeinsam anfangen.
Für unsere Besucherinnen und Besucher im Internet,
die sich nicht mit uns im Ausstellungsraum drehen können,
aber beim nächsten Spaziergang eine ähnliche kleine Aufgabe bewältigen sollten:Bitte suchen Sie sich einen Baum aus,
der Ihnen gefällt, der Sie anzieht!
Bitte gehen Sie zu diesem Baum
und stellen sich ganz dich an den Stamm
und schauen dann für ein, zwei Sekunden
in die Krone des Baumes!
Ich hoffe, Sie haben es gespürt, den Flügelschlag der Engel dieser 59 Exponate und der 10 Künstlerinnen, die all das hier geschaffen haben, die Bilder, die Skulpturen, die Installationen, die Texte.
Da gibt es den Engel des Nachttraums, des Tagtraums, des liebestraums. Da finden Sie den kleinen erschöpften Engel, die drei Engel, die die Stadt bewachen. Da finden Sie den Engel der Heiterkeit, aber auch den Engel des Leids, der neben der trauernden Frau sitzt und sie stützt. Da schauen Sie in die Augen von Engel I und Engel II. Oder in die eigenen Augen. Denn ein jeder kann für jeden ein Engel sein. Und manchmal braucht es gerade dafür nicht viel, vielleicht nur ein aufmunterndes Wort, nur eine Minute Zeit zum Zuhören oder nur eine Umarmung und die Wärme, die die junge Frau an die alte weitergibt. Diese Engel werfen - im Gegensatz zu den himmlischen Helfern - einen Schatten, in den andere springen können. Da gibt es den Engel, der sich nicht scheut, seinen Fuß an Orte der kaum vorstellbaren Armut zu setzen, um zu helfen, und selbst an Orten des Schreckens und der Todesangst zu erscheinen.
Da sind die Engel, die den ewigen Schlaf der Toten bewachen und uns Lebende zur Ruhe und zum Einhalten zwingen.
Da ist das licht, das die Federn leuchten lässt. Engelschwingen? Vogelfedern? Ja, Vogelfedern, die man einfach wegpusten kann und mit denen sich doch große und kleine Vögel in die Lüfte erheben können. Ist nicht jeder Vogel ein wahres Wunder, ein engelgleiches Wunder, um uns noch in grauer Nacht den nahen Morgen tirilierend anzukündigen, uns in den Traum zu singen, Eis und Schnee zu trotzen, in warme Kontinente zu fliegen und nach Monaten genau an den Ausgangspunkt ihrer Reise zurückzukehren?
Da gibt es auch Bilder mit einem Augenzwinkern.
Hand aufs Herz, möchten Sie nicht auch wie ich wissen, was der kleine Engel da hinter dem roten Vorhang gerade so intensiv beobachtet?
Irgendein kluger Mensch hat mal gesagt: Kunst ist dazu da, Fragen aufzuwerfen, nicht Antworten zu geben. Darum haben wir unserer Ausstellung den Titel gegeben “Engel, wo bist du?” Sie sind jetzt berufen, eine Antwort, Ihre persönliche Antwort auf diese Frage zu finden.
Ich bin sicher, dass Ihnen die Kunstwerke dieser Ausstellung eine gute Hilfe dabei sein werden.